Gehörlose Kinder wurden in damaligen Heimen misshandelt

Das Grauen in den Anstalten

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Vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg hatte es zahlreiche Misshandlungen an gehörlosen Kindern und Jugendlichen gegeben. Nun arbeitet eine neue Stiftung die Geschehnisse auf und zahlt Entschädigungen an die Opfer
Von Thomas Mitterhuber

Geblieben ist der Hass. Der Hass gegenüber allen Hörenden – besonders gegenüber Lehrern und Erziehern. Zu tief sind die Wunden, die Achim Blage als Kind in der Taubstummenanstalt Friedberg erfahren musste. „Wenn ich heute auf hörende Fremde treffe, stocke ich innerlich kurz. Aber dann muss ich mir selbst sagen, dass diese gar nichts mit meinen früheren Erlebnissen zu tun haben“, erzählt der heute 66-Jährige in seiner Münchner Wohnung. Früher sei die innere Ablehnung, der Hass, noch stärker gewesen. Mit den Jahren habe sich das zwar verringert, aber es sei immer noch da.

Über seine Erfahrungen spricht Achim Blage eigentlich nur in seiner Familie und im engen Freundeskreis. Freunde und Bekannte kennen ihn als umgänglichen, freundlichen Menschen. Als einen, der gerne über seine eigenen Scherze lacht. Dabei wird sein Kopf oft hochrot. Nach der Schule wurde er Steuerfachangestellter, zog Jahre später nach München und heiratete. Im September 2015 ging er in Rente.

Seit er 14 ist, engagiert Blage sich in der Gehörlosengemeinschaft, damals im Gehörlosen Turn- und Sportverein Frankfurt und im hessischen Sportverband, heute für den Gehörlosenverband München und Umland. Seine Aufgabe ist es unter anderem, die Aktionspläne in den umliegenden Gemeinden mitzugestalten. Außerdem leitet Blage eine Selbsthilfegruppe für gehörlose Angehörige von pflegebedürftigen Menschen.

Achim Blage, ein Einzelkind gehörloser Eltern, ursprünglich aus Niedersachsen, ertaubte vermutlich mit zwei Jahren. Gut ein Jahr später, 1955, zogen die Blages nach Frankfurt am Main, der Junge wurde auf die Taubstummenanstalt Friedberg geschickt. Das dortige Heim wurde zu seinem Zuhause, obwohl sein Elternhaus etwa eine halbe Autostunde entfernt war. Die Schüler durften – damals üblich – nur zu den großen Ferien nach Hause.

„Gebärden waren natürlich verboten im Unterricht. Unsere damaligen Lehrer konnten das sowieso gar nicht. Die einzige Gebärde, die sie kannten, war die für ‚Pssst!‘.“ Dann wird Blages Kopf wieder rot, er muss über diese Absurdität lachen. Es ist der Zynismus im Verhalten seiner alten Taubstummenoberlehrer: Für eine vollständige Kommunikation benötigen gehörlose Kinder die Gebärdensprache – aber alles, was die Pädagogen beherrschen, ist eine Geste, die die Kommunikation unterbinden soll.

Der gehörlose Achim Blage wurde als Kind geschlagen
Der gehörlose Achim Blage wurde als Kind geschlagen

Weil seine Mitschüler den Lehrer nicht immer verstanden, erklärte der junge Blage ihnen die Aufgaben oder half ihnen dabei. Wurde er aber bei dieser „Plauderei“ erwischt, bekam er Strafarbeiten. „Das habe ich schon oft erlebt. Unser Klassenlehrer war eigentlich sehr nett, aber manchmal auch sehr streng. Wir hatten aber Glück mit ihm, andere waren schlimmer.“

Am brutalsten seien aber die Heimerzieherinnen gewesen. Blage schildert Geschehnisse, die er selbst erlebt oder gesehen hat. „Das Essen dort war ein Fraß. Wir mussten alles aufessen, was uns die Erzieher auf den Tellern legten. Und wenn ich mich übergeben musste, wurde ich gezwungen, das Erbrochene wieder aufzuessen.“ Manchmal kam es vor, dass der Junge nicht wegen des Essens erbrach, sondern weil er sah, wie ein anderer Mitschüler sich übergab.

Außerdem gab es regelmäßig Schläge. Auf die Handinnenfläche oder auf die Fingerkuppen. „Egal womit. Sie nahmen einfach das, was zufällig in der Nähe herumlag. Sei es ein Stock, ein Kochlöffel oder eine Schöpfkelle“, erinnert sich Blage noch gut an den Schmerz.

Als er wieder nach Hause durfte, erzählte er seinen Eltern davon. Wutentbrannt ging der Vater zum Direktor und stellte ihn zur Rede. Dieser nahm ihn jedoch nicht ernst und meinte, Kinder würden immer lügen. „Meine Eltern haben mir schon geglaubt, waren aber irgendwie machtlos.“ Dieses Gefühl von Machtlosigkeit, von Ausgeliefertsein – sicherlich eine Antriebsfeder von Blages fortwährendem Hass auf Hörende. Briefe an die Eltern wurden vom Direktor höchstpersönlich zensiert und an die Kinder zurückgegeben. Diese mussten die Texte dann ohne die gestrichenen Passagen neu verfassen. Wenn die Eltern die Briefe zu Hause lasen, wähnten sie ihre Kinder gut aufgehoben.

Wenn die Eltern sie nach den Ferien wieder ins Heim brachten, wurden diese von den Erzieherinnen gerne überschwänglich begrüßt und umarmt. Sobald die Mütter und Väter aber wieder weg waren, hätten sie sogleich „ihre wahren Gesichter gezeigt“, berichteten mehrere Opfer.

2010 veröffentlichte die Neue Osnabrücker Zeitung Misshandlungen an vier gehörlosen Frauen, die früher im Internat St. Raphael in Osnabrück-Haste untergebracht waren. Geschildert wurde das Verhalten einer Nonne, die mit einem Kleiderbügel „blind drauflos geschlagen“ habe. Ein anderes Mädchen wurde so hart auf das Hörgerät geohrfeigt, dass das Ohr blutete. Trotz dieser Verletzung zwang man sie, das Gerät weiter zu tragen. In einem anderen Fall ging die Hörhilfe kaputt. Eltern gegenüber wurden diese Misshandlungen stets abgestritten, die blauen Flecken seien alle beim Spielen und Toben entstanden. Die Kinder mussten sich außerdem für ihre angeblichen „Lügen“ bei der Oberin entschuldigen.

Auch die DGZ berichtete im selben Jahr in einem Artikel über Misshandlungen gehörloser Kinder. Damals waren die sexuellen Übergriffe an der Odenwaldschule publik geworden. Darin wurde ebenfalls von einem „besonders harten Fall von Kindesmissbrauch“ eines Priesters an einer Gehörlosenschule im US-Bundesstaat Wisconsin berichtet. Während seiner Laufbahn soll der Geistliche zwischen 1950 und 1974 über 200 Kinder missbraucht haben. Weil die Kirche dazu schwieg, kam er bis zu seinem Tod ungestraft davon.

DGZ-Bericht über Missbrauch löst Welle aus

Am Ende des DGZ-Artikels wurden die Leser aufgerufen, ihre Erfahrungen anonym zu schildern und der Redaktion zuzuschicken. Das Feedback war enorm – zahlenmäßig und inhaltlich. Gehörlose berichteten von Misshandlungen in ihrer Kindheit an Schulen und Heimen. Auch Fachleute wie Psychologen und Ärzte meldeten sich und begrüßten ausdrücklich, dass dieses Thema aufgegriffen wurde.

16. März 2018: Knapp 250 Gäste sind zu einer Veranstaltung im Bayerischen Landtag eingeladen, darunter auch Gehörlose. Man wolle „den Betroffenen Aufmerksamkeit schenken und Hilfestellungen bei der Aufarbeitung geben“, sagte Landtagspräsidentin Barbara Stamm. Gemeint sind Menschen, die in Behinderteneinrichtungen untergebracht waren und dort „Leid und Unrecht“ erlitten hatten.

Nach den Eröffnungsreden kommen ehemalige Opfer in einer Gesprächsrunde auf dem Podium zu Wort, von den sieben Betroffenen sind vier gehörlos. Achim Blage ist einer von ihnen, auch er schildert dem Publikum seine Erfahrungen. Und dass er eine Entschädigungszahlung von der Stiftung Anerkennung und Hilfe erhalten hätte.

Im Bayerischen Landtag berichteten Betroffene von dem damals erlebten Missbrauch
Im Bayerischen Landtag berichteten Betroffene von dem damals erlebten Missbrauch

Die Stiftung Anerkennung und Hilfe, 2017 auf einen Bundestagsbeschluss gegründet, hat das Ziel, die damaligen Opfer mit finanziellen Leistungen zu unterstützen und ihre Geschehnisse aufzuarbeiten. 2009 entstand ein Runder Tisch Heimerziehung, der sich ausführlich mit der Situation in den Heimen beschäftigte und Handlungsempfehlungen an den Bundestag abgeben sollte – die letztlich zu der Gründung der Stiftung führten. Am Stiftungsbudget beteiligten sich Bund, Länder und die Kirche. Über die gesamte Laufzeit von fünf Jahren sind es laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) rund 288 Millionen Euro.

Auch die Aufarbeitung und die öffentliche Anerkennung für das erlittene Unrecht sind zentrale Aufgaben der Stiftung. Ab dem 1. Januar 2017 können Betroffene einen Antrag auf Unterstützungsleistungen stellen, die Antragsfrist – ursprünglich Ende 2019 – wurde auf den 31. Dezember 2020 verlängert. Danach werden die Erfahrungen anonymisiert, wissenschaftlich aufgearbeitet und veröffentlicht, bevor die Stiftung 2021 ihre Arbeit beendet. Bereits „voraussichtlich Mitte 2018“ sollen erste Ergebnisse online gehen.

Stiftung zahlt Entschädigungen

In ihrem Infoflyer zählt die Stiftung als Beispiele für das Leid und Unrecht auf: Körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt, mangelnde (gesundheitliche) Versorgung, Verweigerung einer Schul- bzw. Berufsausbildung. Auch Kinderarbeit oder Arbeit ohne (angemessene) Entlohnung werden von der Stiftung berücksichtigt und mit Rentenersatzleistungen ausgeglichen.

Viele Opfer würden heute noch an den Folgewirkungen leiden, zum Beispiel körperlichen Schäden, Schlafstörungen, Depressionen, Traumatisierungen, Verbitterungs- und Hassgefühlen, fehlender oder geringer Schulbildung oder frühzeitiger Erwerbsunfähigkeit.

Ein entscheidendes Kriterium für den Antrag ist, dass die Betroffenen früher als Minderjährige in sogenannten „stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe“ untergebracht waren. Dazu gehören die damaligen Taubstummenanstalten sowie vergleichbare Einrichtungen. Außerdem werden nur Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum berücksichtigt (siehe unsere News dazu).

Auf der Webseite der Stiftung gibt es Gebärdensprachvideos, in denen die Aufgaben und der Anmeldungsprozess erklärt werden. Für Gehörlose hat man spezielle Kontaktmöglichkeiten eingerichtet:

E-Mail-Adresse für Gehörlose: info.gehoerlos@bmas.bund.de
Gebärdentelefon: gebaerdentelefon@sip.bmas.buergerservice-bund.de

Wie konnte es zu den massiven Misshandlungen kommen? Dahinter steckten nicht nur einzelne brutale Menschen, sondern manchmal ganze Systeme. Direktoren deckten die Erzieherinnen und Lehrer, Vorwürfe wurden abgestritten oder verharmlost. Vielen der behinderten Kinder und Jugendlichen wurde in stationären Einrichtungen „teilweise systematisch Leid und Unrecht zugefügt“, hielt der Bundestag bereits 2011 fest – in dem Antrag zur Errichtung der Stiftung. Laut Schätzungen handelt es sich um insgesamt etwa 100.000 behinderte Menschen, die in dem Zeitraum Opfer wurden und heute Anspruch auf Unterstützungsleistungen haben.

Als Gründe für die Misshandlungen benannte der Runde Tisch Heimerziehung „die gesellschaftlichen Bedingungen, problematische Menschenbilder bei den Handelnden und ein schlechtes und an vielen Stellen demokratisch unreifes System“.

Speziell bei den Gehörlosen sieht Markus Beetz einen Zusammenhang zwischen den Misshandlungen und dem mangelhaften Sprachzugang. Weil die Gebärdensprache verboten und nicht angewendet wurde, habe es ständig kommunikative Defizite gegeben. Außerdem hätten ehrgeizige Lehrer pädagogische Erfolge vorweisen wollen, insbesondere in der Hör- und Sprecherziehung. „Sie hatten zu hohe Erwartungen an die Kinder, bei Misserfolg kam schnell Frust. Die damalige Pädagogik hat versagt – und das zu Lasten der unschuldigen Kinder.“

Misshandlungen im ganzen Bundesgebiet

Von dem hohen Norden bis tief in den Schwarzwald: Achim Blage kennt Gehörlose bundesweit, die Ähnliches oder Schlimmeres erlebt haben. „Solche Geschichten findet man überall in Deutschland. Ich habe mich schon des Öfteren gefragt, ob Misshandlungen damals Teil der Erzieherausbildung waren“, sagt er. Und lacht wieder.

Tatsächlich soll eine Ausbildung eher die Ausnahme gewesen sein: „Ein Großteil der damaligen Erzieherinnen und Nonnen in Taubstummenanstalten wurde gar nicht entsprechend ausgebildet“, sagt Beetz. Der Münchner beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Historie der Gehörlosen. Heute arbeitet er beim Landesverband Bayern der Gehörlosen, er ist zuständig für die Bibliothek im Dokuzentrum an der Schwanthalerstraße. Dort erfasst und archiviert er die Geschichte der bayerischen Gehörlosenbewegung.

Neben seinem Job unterstützt er gehörlose Opfer dabei, Zeugniskopien oder Schulbestätigungen für ihre Anträge an die Stiftung anzufordern. Beetz macht das ehrenamtlich, er kennt die Hürden, vor denen viele ältere Gehörlose stehen. „Viele wissen nicht, wie sie ihre ehemalige Schule anschreiben sollen, um eine Zeugniskopie anzufordern“, sagt der 40-Jährige. Andere hätten wiederum Hemmungen, sich selbst bei der Schule zu melden, weil diese durch die Anfrage dann den Verdacht haben könnte, man wolle die Misshandlungen publik machen und der Schule schaden.

Seit Jahresbeginn kontaktiert Beetz im Auftrag der gehörlosen Ehemaligen die bayerischen Schulen beziehungsweise ihre Nachfolgeinstitutionen und fordert die Dokumente an. „Mit einem offiziellen Brief vom Landesverband ist die Erfolgsquote höher“, berichtet er. Einige Privatpersonen hätten auf ihre Bitte zuerst keine Antwort von ihrer Schule bekommen, über den Landesverband aber dann doch.

„Bei einem Fall aus Würzburg war es besonders schwierig, zum Landratsamt hinzugehen und den Entschädigungsantrag abzugeben. Denn das Würzburger Landratsamt ist heute in einem historischen Gebäude untergebracht – ausgerechnet jenem der damaligen Taubstummenanstalt, mit der der Mann schreckliche Erinnerungen aus seiner Kindheit verband“, erzählt Beetz.

Beetz ist zudem Vorsitzender im Ortsverband der Gehörlosen Landshut. Auf einer Mitgliederversammlung vor einigen Monaten informierte er die Mitglieder über die Möglichkeit, einen Antrag auf Entschädigung zu stellen. Kurz daraufhin seien mehrere auf ihn zugegangen und hätten von Misshandlungserfahrungen aus ihrer Kindheit erzählt. Die schrecklichen Geschichten würden ihn schon ein Stück weit belasten, sagt Beetz: „Ich bin weder Psychologe noch Sozialarbeiter, sie wären bei einer Fachperson richtig. Aber für die meisten kommt das überhaupt nicht in Frage.“

Markus Beetz unterstützt Gehörlose bei ihren Entschädigungsanträgen
Markus Beetz unterstützt Gehörlose bei ihren Entschädigungsanträgen

Auch wenn es die Misshandlungen in ganz Deutschland und darüber hinaus gab, gibt es scheinbar ein Nord-Süd-Gefälle: Zum 28. Februar 2018 verzeichnete die Stiftung 1909 gestellte Anträge. Allein in Bayern waren es Ende März bereits „knapp über 400 Anmeldungen“. Mit diesen Zahlen sind jedoch alle Arten von Behinderungen gemeint.

Weil die Behinderungsarten nicht statistisch erfasst werden, sei eine „gesicherte Angabe der Zahl der gehörlosen beziehungsweise hörbehinderten Menschen“ nicht möglich, heißt es von der BMAS-Pressestelle. Das BMAS leitet die Geschäftsstelle der Stiftung. Dort wird über die einzelnen Anträge entschieden und anschließend werden die Unterstützungsleistungen überwiesen. Die Zahlungen sind einkommenssteuerfrei und werden nicht auf Sozialleistungen angerechnet. Betroffene dürfen frei über das Geld verfügen.

Bayernweit gab es in den 50er Jahren ein knappes Dutzend Taubstummenanstalten, laut Beetz. Zu den schlimmsten zählt er diejenigen in Hohenwart, Dillingen und Straubing. Unter älteren Gehörlosen hat die 1878 von Regens Wagner und dem Franziskanerorden gegründete Taubstummenanstalt Hohenwart keinen besonders guten Ruf. Ehemalige berichteten von brutalen Misshandlungen durch die Ordensschwestern, von einer Atmosphäre ständiger Angst. In seiner Zuschrift auf den DGZ-Aufruf 2010 schrieb ein heute Endsiebziger von traumatischen Erfahrungen aus seiner Kindheit, die ihn lebenslang belastet hätten.

In seinem Bericht ist von täglichen Stockschlägen die Rede. Als Kind sei er in Hohenwart oft auf dem Klo eingesperrt worden, man hätte ihm mit roher Gewalt Essen in den Mund gesteckt. Ebenso berichtete er von sexuellem Missbrauch durch die Nonnen, er hätte sich vor ihnen nackt ausziehen müssen. Weil er als Sechsjähriger etwas nicht verstanden hatte, soll eine Klosterlehrerin seinen Kopf an die Wand geschlagen haben. Als „Oralopfer“ habe er außerdem durch die brutale Sprecherziehung große Wissenseinbußen erleiden müssen sowie seine Lebensfreude verloren. Von vielen gehörlosen Mitmenschen sei er später als „dumm“ bezeichnet und abgelehnt worden. Für seinen „langsamen Geistesverstand“ macht er die körperliche Gewalt verantwortlich, aber auch die Oralerziehung.

„In unserer Klasse hatten fast alle zusätzliche Behinderungen oder Lernschwierigkeiten. Wenn sie Regeln oder Aufgaben nicht verstanden haben, wurden sie aufs Übelste verprügelt“, erinnert sich eine Ehemalige, die in Hohenwart war. „Oft waren die Kinder mit geistigen Behinderungen am schlimmsten dran. Ich musste mit ansehen, wie ein Lehrer einem Schüler mit einem schweren Eisenschlüssel auf den Kopf haute, bis es blutete.“

Der Günzburger Rudolf Preis war im Kindergarten in Hohenwart. Geplagt von Heimweh machte der Dreijährige regelmäßig ins Bett – und wurde dafür verprügelt. Als Folge des Bettnässens durfte er „ab 16 Uhr nichts mehr trinken und auch kein saftiges Obst mehr essen“. Trank er vor Durst heimlich vom Wasserhahn, bekam er Schläge. In der Schule stellte der Lehrer den Jungen vor der gesamten Klasse bloß, er zwang die Mitschüler dazu, „Pfui, pfui!“ zu rufen.

Später wurde Preis in Dillingen eingeschult, auch dort wurde er fürs Bettnässen jeden Tag geschlagen und erlebte weitere traumatische Erfahrungen. Einmal soll eine Erzieherin versucht haben, Preis’ eigenen Bruder für eine Bestrafung zu instrumentalisieren (= zu benutzen). „Das ist nicht dein Bruder, das ist dein Papa!“ sagte die „Teufelsschwester“ und forderte diesen zum Schlagen auf, was dieser aber nicht übers Herz brachte.

„Im Grunde machte es kaum einen Unterschied, ob die Anstalt dem Staat oder der Kirche angehörte. Misshandlungen hat es in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen gleichermaßen gegeben“, sagt Markus Beetz, dem zahlreiche Fälle in ganz Bayern bekannt sind. Die Taubstummenanstalt Friedberg war eine staatliche Einrichtung, die in Osnabrück gehörte der katholischen Kirche an.

Auch Nonnen misshandelten Kinder

Aber gerade in Anstalten, die von der Kirche geführt wurden, sieht Beetz das Perfide (= Hinterhältige, Boshafte), den großen Widerspruch. Die Nonne – das Sinnbild von Nächstenliebe, Gottesfurcht, Anständigkeit. Von solchen Gottesdienern würde man erwarten, dass sie sich liebevoll um die Schutzbefohlenen kümmern. „In Wirklichkeit aber waren viele unbarmherzig“, urteilt der Archivar.

„Manchmal gab es unter den Klosterfrauen eine, die sich liebevoll um die Kinder kümmerte und auch beliebt bei ihnen war. Verprügelte Kinder holten sich anschließend Trost bei dieser Nonne. Diese wurde aber von den anderen Nonnen ausgegrenzt oder gar schikaniert“, weiß Beetz aus den Schilderungen Ehemaliger.

Selbst die Zeit vermag die Wunden nicht zu heilen. Das Erlebte verfolgt die Opfer auch nach Jahrzehnten, die meisten wohl bis in den Tod. Vor sieben Jahren las Rudolf Preis in der Zeitung von einer „unglaublichen Lüge“. Die „Teufelsschwester“, die ihn als Kind in Dillingen „ständig“ misshandelt hatte, wurde später in eine andere Einrichtung für Gehörlose versetzt. Dort starb sie 2011, zu ihrem Tod erschien ein Zeitungsartikel. Darin wurde, so Preis, die Schwester als so beliebt, gutmütig und mit einem großen Herzen beschrieben, dass sie posthum geehrt wurde. Beim Lesen kamen Preis die Tränen, aus Wut schmiss er die Zeitung weg.

Aufgrund der belastenden Erfahrungen hat es die Stiftung Anerkennung und Hilfe sich zum Ziel gemacht, den Betroffenen möglichst schnell und unbürokratisch zu helfen. Dass das Konzept funktioniert, kann Achim Blage bestätigen. Im vergangenen Jahr stellte er seinen Antrag, einige Wochen später wurde er zur Anhörung eingeladen. Am 30. August 2017 war es soweit, Blage sprach zwei Stunden lang über seine Kindheit in Friedberg, eine Beraterin schrieb alles auf und leitete den Antrag an die Stiftungszentrale weiter. „Drei Wochen später war das Geld auf meinem Konto.“ Auch Rudolf Preis hat den Antrag gestellt und die Entschädigung bereits erhalten.

Hilft das Geld den Betroffenen? Am 16. März im Bayerischen Landtag sagte Achim Blage, er spüre zwar Genugtuung – Kirche und Staat würden sich stellvertretend für die Taten entschuldigen. Aber für eine echte Anerkennung reiche das nicht aus. „Direktoren, Pädagogen und die damals in der Verantwortung Stehenden bekamen Ehrenmedaillen und Urkunden verliehen. Eine Aberkennung dieser Auszeichnungen wäre für mich eine echte Anerkennung.“

Markus Beetz pflichtet ihm bei: „Die meisten Täter sind inzwischen verstorben, aber es gibt einige, die noch leben. Unbehelligt, mit Bundesverdienstkreuzen und anderen Ehrungen gewürdigt.“ Eine öffentliche Entschuldigung der bayerischen Anstalten habe es bis heute nicht gegeben. „Da wurde null aufgearbeitet.“

Vielleicht könne eine Aberkennung der Ehrungen seine „inneren Narben“ endlich heilen, sagt Achim Blage. Und diesmal lacht er nicht.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der DGZ 04 | 2018.
heim, kinder, missbrauch, stiftung
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