Gewalt im Gehörlosensport (in DGS)
Von Melissa Wessel
Hier ist die DGS-Übersetzung unseres Artikels „Nein zur Gewalt“ über Gewalt im Gehörlosensport, erschienen in der DGZ 12 | 2024.
Hinweis: Dieser Artikel beinhaltet Schilderungen von Gewalt in verschiedenen Formen (physisch, psychisch und sexuell).
Jedes Jahr findet am 25. November der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewaltgegen Frauen statt. Es ist ein Gedenk-und Aktionstag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber Frauen und Mädchen. Die taube Aktivistin Lela Finkbeiner kritisierte am 25. November dieses Jahres auf Instagram (@lela.finkbeiner), dass in den Medien hauptsächlich weiße Personen ohne Behinderung thematisiert werden. „Gewalt betrifft mehrfach marginalisierte Personen auf besonders komplexe Weise–BIPoC, Frauen mit Behinderungen, trans Frauen, nicht-binäre Personen und viele andere, deren Lebensrealitäten von mehrfach Diskriminierungen geprägt sind.“
Das gleiche Problem findet sich im Gehörlosensport wieder: Während im Mainstream-Sport immer wieder ein sicherer und gewaltfreier Sport thematisiert wird, kommt das Thema Gewalt im Gehörlosensport kaum zur Sprache. Dabei werden hinter vorgehaltener Hand oder unter vier Augen immer wieder Fälle erwähnt, darunter auch promintente Namen aus der Gehörlosensportszene – verstorben oder noch am Leben. Betroffen sind hier nicht nur FLINTA*, sondern auch Männer. Aber fast nichts davon gelangt an die Öffentlichkeit. Auf den Aufruf der DGZ von Ende Oktober in den sozialen Medien meldeten sich mehrere Personen, sowohl Betroffene als auch Personen, die Situationen beobachtet oder erzählt bekommen haben. Die meisten von ihnen wollen anonym bleiben. Die Gewalterfahrungen sind vielfältig: Von Mobbing bis zur sexuellen Gewalt, darunter auch Vergewaltigung, ist alles dabei.
Tom Schönlein, geb. Schmitt, erlebte vor ungefähr 40 Jahren sexuelle Übergriffe durch den gehörlosen Schwimmtrainer, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern kann, beim GSV Würzburg. „Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Es hat alles damit angefangen, dass er in die Dusche reingekommen ist und seinen Penis gezeigt hat“, erzählt der 54-Jährige der DGZ im Videointerview. Später hätte sich der Trainer ihm auch von hinten angenähert und so auch berührt. Auch hätte er die Vorhaut seines Penis zurückgeschoben und den jungen Tom dazu aufgefordert, dies ebenfalls zu machen. Der Trainer habe ihn auch angefasst.
„Er hat mir gedroht, dass es nichts mit dem Leistungssport werden würde, wenn ich das nicht mitmache. Ich war damals ein sehr guter Schwimmer“, erinnert sich Schönlein zurück. Nach den ganzen Vorfällen habe er dann mit dem Schwimmen aufgehört. Die offizielle Begründung damals: „Ich hatte keinen Spaß mehr. Aber der Trainer hat mir gedroht, mich fertigzumachen, wenn ich das jemandem erzählen würde.“ Der Verein wunderte sich, warum er nicht mehr zum Training kam. Daraufhin erzählte Schönlein einer Person, die damals im Vorstand saß, von den Vorfällen. Diese reagierte umgehend und schmiss den Trainer raus. Auf Nachfrage der DGZ antwortet der GSV Würzburg: „Der damalige Vorstand lebt leider nicht mehr, sodass keine direkten Zeitzeugen mehr zur Verfügung stehen.“ Auch konnte man in den alten Protokollen keinen Hinweis darauf finden. Allerdings habe „der ganze Vorstand und fünf lizenzierte Übungsleiter“ Anfang des Jahres einen Ehrenkodex, angelehnt an den DOSB-Ehrenkodex, unterzeichnet, der klare Regeln und Werte festlegt.
Schönlein leidet „bis heute an Posttraumatischer Belastungsstörung.“ Die Erinnerungen würden immer wieder hochkommen, vor allem, wenn er schwimmen geht. Dann fühlt Schönlein sich vor allem in der Dusche nicht wohl.
Dass Trainer oder andere Funktionäre ihre Machtposition missbrauchen, ist kein Einzelfall. Sandra* berichtete der DGZ von mehreren Vorfällen sexueller Belästigung durch einen Funktionär. Zu ihrem Schutz wird die Geschichte anonym erzählt. Sandra erzählt, dass sie nach ungefähr drei oder vier Jahren im Verein in einem Hotelzimmer sexuell missbraucht worden sei. Es fing mit Drohungen an: „Wenn du mich nicht ranlässt, wird es nichts mit dem Leistungssport“, erinnert Sandra sich zurück. „Da damals hauptsächlich nur Männer bei dieser Sportart waren, habe ich bei Wettkampfteilnahmen immer ein Einzelzimmer bekommen. An diesem Tag wollte ich früher schlafen gehen und er bat mir an, mich zum Zimmer zu begleiten. Ich lehnte ab, aber er kam trotzdem mit.“ Vor dem Zimmer hätten sie dann gute Nacht gesagt, er sei aber gegen ihren Willen mit ins Zimmer gekommen und habe versucht, sie auszuziehen. Sie wehrte sich dagegen, konnte aber nichts ausrichten und wurde dann aufs Bett gestoßen. Er hätte sie und sich selbst so lange angefasst, bis er kam. „Dann sagte er zu mir: ‚Andere Frauen sind viel besser als du!‘ und ging“, erinnert Sandra sich zurück. Sie erzählte es niemandem.
Auch auf internationaler Ebene gibt es Fälle von sexualisierter Gewalt. November 2022 wurde Dieter Norf, Technischer Direktor der Leichtathletik, vom Internationalen Gehörlosen-Sportverband (ICSD) deswegen von seinem Posten suspendiert sowie für alle sportlichen und offiziellen Veranstaltungen des ICSD für 30 Jahre gesperrt (DGZ 01 | 2023). Er soll während der Sommer-Deaflympics 2022 in Brasilien WhatsApp-Nachrichten mit sexuellem Bezug an ein weibliches ICSD-Mitglied verschickt und seine Position als Technischen Direktor ausgenutzt haben. Nach Analyse der Aussagen des Opfers und verschiedener Beweise kam ein Gremium zum Schluss, dass Norf gegen den Ethikkodex des ICSD verstieß. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der ehemalige Leichtathlet verschiedene Ehrungen inne.
Eine davon war die Bronzene Ehrennadel, die Norf 2016 erhielt. Januar 2023 entschied sich das Präsidium des Gehörlosen-Sportverbands Nordrhein-Westfalen (GSNRW), diese zu widerrufen, da er gegen „unsere Werte und unseren Ehrenkodex verstoßen hat“, heißt es in der damals veröffentlichten Mitteilung. Die 2018 vom Land Nordrhein-Westfalen (NRW) verliehene NRW-Sportplakette, die höchste Auszeichnung für ehrenamtliches Engagement im Sport, wurde ihm ebenfalls aberkannt. Auch der DGSV reagierte auf die Sperre: „Wir hatten die Entscheidung vom ICSD aufgenommen und sie unserer DGSV-Ethikkommission zur Einsichtnahme weitergegeben wegen der Heinrich-Siepmann-Plakette, die er im Jahr 2015 von uns bekommen hatte“, schreibt der ehemalige Präsident Tobias Burz der DGZ. Die Kommission empfahl daraufhin, die Heinrich-Siepmann-Plakette von Norf zurückzufordern. Dieser Empfehlung kam das alte Präsidium nach und sie erhielt die Plakette von Norf zurück.
Das Thema Gewalt ist dem Sportverband wichtig. Deshalb hat der DGSV eine Beauftragte für Präventionsarbeit zum Thema Sexualisierte Gewalt im Sport: Ludmilla Schmidt. Schmidt und DGSV-Präsidentin Katharina Pape erzählten im Interview mit der DGZ, dass sie das Gefühl haben, dass die Wichtigkeit des Themas bisher noch nicht so richtig angekommen sei bei den Vereinen und Verbänden, aber auch in den bisherigen DGSV-Vorständen. „Das wollen wir jetzt ändern. Wir legen jetzt einen verstärkten Fokus darauf“, so Pape. Deswegen wurde beim Verbandstag Anfang November auch das neue Konzept Safe Sport (engl.: Sicherer Sport) vorgestellt. „Aber ich habe dort auch gemerkt, dass Nachholbedarf besteht und man im Dialog bleiben muss“, bemängelt die 39-Jährige. „Es ist aber teilweise auch ein Generationskonflikt. Die jüngere Generation ist viel mehr sensibilisiert. Und diese Denkweise spiegelt sich in der Vorstandsarbeit mit verschiedenen Generationen wider.“
Lela Finkbeiner bestätigt dieses Problem und schildert eine Beobachtung während eines Lehrgangs: Ein „80-jähriger tauber Vorsitzender eines Sportverbandes wollte einer jungen Frau auf den Po klatschen“ und kommentierte auf Finkbeiners scharfen Blick hin: „Richtig geiler Arsch, was passiert, wenn ich den anfasse?“ Sie konnte den Übergriff durch ihr Eingreifen verhindern.
Die Aktivistin berichtet weiter von mehrfachen sexuell anzüglichen Bemerkungen von Männern während des Lehrgangs, ohne dass jemand eingeschritten sei. Sie kritisiert, dass Bemühungen um Aufklärung oft an Männern vorbeigehen: „Es reicht nicht, das Thema nur anzusprechen – wir brauchen strukturelle Veränderungen.“
Finkbeiner fordert gezielte Sensibilisierung und wirksame Gewaltschutzkonzepte in Tauben Communitys: „Schweigen oder Wegsehen normalisiert Übergriffe.“ Sie betont, dass es nicht nur um individuelles Fehlverhalten gehe, sondern um tief verankerte Machtstrukturen, die vor allem von Männern geschaffen und aufrechterhalten werden. Geschlossene Räume wie Gehörlosenvereine begünstigen diese Dynamiken – und lassen die Opfer oft allein zurück.
Dass das Patriarchat (= Gesellschaftsordnung, die von männlichen Denk- und Verhaltensmustern geprägt ist) das Kernproblem ist, bestätigt der Bericht zum Forschungsprojekt SicherImSport: „Sexualisierte Grenzverletzungen, Belästigung und Gewalt im organisierten Sport – Häufigkeiten und Formen sowie der Status Quo (= jetziger Zustand, d. Red.) der Prävention und Intervention.“ Von den 4.367 Teilnehmenden gaben 70 Prozent der Befragten an, irgendeine Form der Gewalt im Vereinssport erfahren zu haben. Über alle Formen der Gewalt hinweg sind die Täter „meist männlich und erwachsen und stellen in den meisten Fällen Trainer*innen im Sportverein oder Sportler*innen derselben Trainingsgruppe dar“, heißt es im Bericht.
Ludmilla Schmidt hat Dezember 2020 als Präventionsbeauftragte angefangen. Der DGSV setzt derzeit ein Stufenmodell um, welches vom Deutschen Olympischen-Sportbund (DOSB) vorgegeben ist und für den Zuschuss notwendig ist. „Es gibt insgesamt zwölf Maßnahmen, und alle müssen bis Ende dieses Jahres umgesetzt werden“, erzählt die Präventionsbeauftragte. Insgesamt hatte man vier Jahre Zeit. Das DOSB-Stufenmodell beschreibt die Mindeststandards zur Prävention und zum Schutz vor sexualisierter Belästigung und Gewalt im Sport für die Mitgliedsorganisationen von DOSB sowie die DOSB-nahen Institutionen. Maßnahmen sind u. a. ein Präventions- sowie Interventionskonzept und Anforderung von Führungszeugnissen (= Bescheinigung, ob Vorstrafen vorhanden sind) bei Personen, die Kinder und Jugendliche betreuen.
Im letzten Jahr hätten sich insgesamt vier Frauen bei Schmidt gemeldet, die Gewalt erlebt haben. Die Zahl mag zwar niedrig erscheinen, für die Präsidentin sei es aber „zu viele!“ Schmidt fügt hinzu, dass die Dunkelziffer sicherlich viel höher ausfalle. Einige Fälle sind noch offen und Schmidt begleitet die Betroffenen. „Ich habe keine Fachkompetenz als Psychologin“, betont sie. „Ich nehme die Meldungen entgegen und bin für die Betroffenen da. Ich spreche mit ihnen, sammle Informationen und informiere anschließend das Präsidium. Gemeinsam mit Silke Bartholomäus (Präventionsbeauftragte dgsj, d. Red.) erarbeite ich Handlungsempfehlungen, die wir dem Präsidium vorlegen. Dieses entscheidet dann, wie weiter vorgegangen wird. Je nach Fall wird manchmal auch die Ethikkommission zur Beratung hinzugezogen.“ Ganz wichtig sei, dass die Betroffenen selbst über alles entscheiden können: Welche Infos dürfen weitergeleitet werden, dürfen andere Personen bzw. Stellen (wie Polizei oder Augenzeugen) kontaktiert werden? „Wir fragen die Betroffenen zuerst. Wir nehmen die Schweigepflicht sehr ernst.“ Pape fügt hinzu: „Es ist uns sehr wichtig, so schnell wie möglich zu handeln, sobald eine Meldung eingeht. Wir versuchen, innerhalb von vier Wochen eine Lösung zu finden bzw. Maßnahmen einzuleiten. Die Betroffenen sollen nicht lange warten müssen.“
Der DGSV wartet nicht nur, bis Fälle gemeldet werden: „Wir beobachten auch aktiv“, erklärt die Präsidentin eindringlich. Wenn wir das Gefühl haben, etwas stimmt nicht, greifen wir ein. Das ist auch unsere Aufgabe.“ Deshalb sei es auch ihr Plan, zukünftig für verschiedene Veranstaltungen, wie z. B. zu den Deaflympics, zwei Beauftragte vor Ort mitzunehmen. „Ich hoffe, dass es klappt. Wenn jemand aus dem Team sich nicht wohlfühlt, können sie die Verantwortlichen ansprechen“, erklärt Pape ihre Vorstellung. Aber die Zuständigen sollen auch eingreifen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt.
Der Berliner Gehörlosensportverein (BGSV) hat auch schon erkannt, dass dieses Thema ein großes Problem ist. Deshalb wird er sich im Rahmen des Projektes „Beauftragte*r für Kinderschutz“ intensiv mit dem Thema Kinderschutz auseinandersetzen. Es soll ein Schutzkonzept aufgebaut werden, wofür eine Arbeitsgruppe gegründet werden soll. „Als wichtige Grundlage muss Wissen rund um das Thema erarbeitet werden. Dazu werden Informationsveranstaltungen und Workshops für den Vereinsvorstand, Übungsleitende, Mitarbeitende sowie für Mitglieder und Angehörige durchgeführt“, beschreibt Andreas Döltgen vom BGSV das Projekt. Für die Umsetzung dieses Vorhabens hat der Verein eine Person als Beauftragte für Kinderschutz ab dem 1. Januar 2025 angestellt.
Neben körperlicher und sexueller Gewalt erreichte die DGZ auch Berichte von Fällen psychischer Gewalt. Die Person, die anonym bleiben möchte, ist schon einige Jahre im Gehörlosensport tätig und berichtet, dass es vor allem auf Verbandsebene viele Fälle gäbe. Oft würden Streitereien zwischen oder innerhalb von Verbänden teils öffentlich ausgetragen und Unwahrheiten verbreitet werden, die teilweise auch ins Persönliche gingen. „Ganz im Stil von Trump und Putin“, so die Beschreibung. „Was dabei leider oft vergessen wird, ist die Auswirkung auf die betroffenen Personen. Manchen mag das nicht oder nur wenig beeindrucken. Andere jedoch rutschen sehr schnell in depressionsähnliche Zustände ab oder sogar direkt in Depressionen. Das alles nur, weil wenige Personen Machtspiele spielen wollen, keine andere Meinung akzeptieren und nicht mal an Kompromisslösungen interessiert sind?“, schreibt die Person der DGZ.
Es fällt auch auf, dass „die allermeisten Leute im Verband absolut nichts von Führung und Personalführung verstehen“. Es ginge immer nur um Macht, Position und die eigenen Interessen. Und darunter würden oft diejenigen, die hauptamtlich im Verein oder Verband tätig sind, leiden. Es sei zwar kein „offensichtliches Mobbing“ und vieles mag vielleicht sogar unbewusst ablaufen. Dennoch sei solch ein Verhalten nicht in Ordnung und „wird früher oder später zum Untergang des Gehörlosensports führen“, schließt die Person ihre Meinung ab.
Aber auch unter den Sportlern herrscht Gewalt. Marc* erlebte im Sommer letztes Jahres körperliche und sexuelle Gewalt durch einen Mitsportler im gleichen Verein. Der damals Achtjährige, der anonym bleiben möchte, freundete sich bei einer Deutschen Meisterschaft mit einem Jungen an. Der zum Zeitpunkt 13-Jährige geht auf die gleiche Schule und wohnt im gleichen Viertel. Eines Tages fuhren die beiden Jungen zusammen zum Training im Gehörlosenverein. Bereits auf der Hinfahrt sprach der Ältere das Thema Sex immer wieder an und Marc fühlte sich unwohl. „Nach der Ankunft gingen die beiden gleich auf die Toilette. Er masturbierte und sagte Marc, er solle in die Kabine kommen und seine Hose ausziehen“, erzählt seine Mutter beim Gespräch mit der DGZ, bei dem Marc auch anwesend war. Der Junge hätte ihn dann ausgelacht und gesagt, dass sein Penis klein sei. Nachdem er ausführlich beschrieb, wie Sex mit Frauen funktioniert, forderte er Marc dazu auf, sich umzudrehen. Dann penetrierte er ihn.
Später beim Training wurde der Täter aggressiv und Marc gegenüber gewalttätig. Er wehrte sich, aber der Junge war stärker. Marc ging zum Trainer, der es aber verharmloste und sagte: „Du musst ‚Stopp!‘ sagen.“ Die Mutter, die zum Zeitpunkt nicht anwesend war, wurde informiert. Marc erzählte ihr vom sexuellen Übergriff allerdings erst später.
Zwei Tage später kam die Mutter zum Training, um mit den Trainern über den Vorfall zu sprechen. „Die beiden reagierten abwehrend, sie meinten, sie hätten es nicht wirklich gesehen“, so die Mutter. Der Täter bekam die Unterhaltung mit und wurde ihrem Sohn gegenüber verbal aggressiv. Nach dem Training verfolgte er Mutter und Sohn und bedrohte die beiden. Noch am gleichen Tag ging sie zur Polizei und erstattete Anzeige wegen Körperverletzung und Bedrohung. „Leider wusste ich damals noch nicht, dass er auch sexuell missbraucht wurde“, bedauert die Mutter. Sonst hätte sie das ebenfalls angezeigt. Wenige Monate später meldete sich die Staatsanwaltschaft zurück: Von weiteren Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Täter wurde abgesehen und das Verfahren eingestellt, weil er „zum Zeitpunkt des angezeigten Vorfalls noch nicht 14 Jahre alt, mithin strafunmündig“ war, heißt es im Brief an die Mutter. Strafunmündig bedeutet, dass man für seine Taten nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Der Verein bestätigt den Vorfall, bedauert aber, dass er ohne Beweise nicht handeln könne. Man hätte den zuständigen Landessportbund gefragt, wie man vorgehen könne. Empfohlen wurde, dass sich die betroffenen Elternteile zu einem klärenden Gespräch zusammensetzen. Jedoch sei das in diesem Fall schwierig gewesen, da der Vater des mutmaßlichen Täters hörend ist. „Wer übernimmt die Dolmetschkosten?“, fragt das Vorstandsmitglied. „Außerdem gibt es Regeln im Training. Es ist nur die Frage, ob und wie diese eingehalten werden. Es ist die Aufgabe der Eltern, die Kinder zu erziehen und ihnen Disziplin beizubringen, nicht die der Übungsleitung.“
Marc geht inzwischen nicht mehr zum Training dieser Sportart, es sei für ihn „unzumutbar“. Er sei traumatisiert, jedes Mal, wenn er den Jungen sieht, bricht Angst aus. Er hat die Sportart gewechselt, aber es ist unklar, ob er da auch weitermacht. Generell fühlt er sich im Sportverein nicht mehr wohl.
*Namen von der DGZ-Redaktion geändert
Active Bystanding
Was kann ich tun, wenn ich eine Situation beobachte? Fünf mögliche Schritte des Active Bystanding der Active Bystander Charité:
- Distraktion: Unterbrich die Situation oder das Verhalten der belästigenden Person. Wechsel das Thema oder hole die gefährdete Person aus der Situation.
- Direktes Handeln: Sagen, dass das Verhalten nicht in Ordnung ist oder dass die belästigende Person aufhören soll.
- Delegieren: Unterstützung suchen (z. B. durch Personen im Umfeld, Freunde oder Personal) oder um Hilfe bitten.
- Danach: Unterstütze die betroffene Person. Biete ihr Unterstützung an oder erkenne an, dass die Situation nicht in Ordnung war.
- Dokumentieren: Dokumentiere den Vorfall, z. B. mit einer Videoaufnahme oder schreibe auf, was genau passiert. Gib der betroffenen Person das Material.
–> Wichtig: Gefährde dich nicht selbst.
Anlaufstellen und Hilfsangebote
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
Beratung in DGS (über Tess) oder Online-Beratung möglich, rund um die Uhr
www.hilfetelefon.de/das-hilfetelefon/beratung/beratung-in-gebaerdensprache.html
Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“:Beratung in DGS (über Tess) möglich
Öffnungszeiten:
montags, mittwochs und freitags, 09:00–14:00 Uhr
dienstags und donnerstags, 15:00–20:00 Uhr
www.hilfe-portal-missbrauch.de/gebaerdensprache
Über die Registerkarte „Hilfe finden“ können auch weitere Anlaufstellen gefunden werden
Safe Sport:
Unabhängige Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport. Online-Beratung im Chat möglich
www.ansprechstelle-safe-sport.de
Präventionsbeauftragte:
DGSV: Ludmilla Schmidt praeventionsbeauftragte@dg-sv.de
dgsj: Silke Bartholomäus s.bartholomaeus_dgsj@dg-sv.de
Medientipp
Die DGZ ging mit drei anderen gebärdensprachlichen Medien (Hand drauf, Sehen statt Hören und Taubenschlag) eine medienübergreifende Kooperation zum Thema Gewalt ein, um ein flächendeckendes Bewusstsein anzustoßen. Die Beiträge kann man anhand eines einheitlichen Logos, das Gewalt symbolisiert, erkennen (vgl. auch unsere News zur Medienkooperation).
Sehen statt Hören thematisierte am 14. Dezember das Thema Partnerschaftliche Gewalt. Die Sendung kann in der ARD-Mediathek angeschaut werden.
Hand drauf auf Instagram (@hand.drauf) widmete sich in der Woche vom 16. Dezember dem Thema digitale Gewalt.
Taubenschlag griff das Thema auch auf. In der Woche vom 16. Dezember veröffentlichten sie einen Beitrag zum Hilfetelefon und die Kritik daran. Den Beitrag mit einem anonymen Fallbeispiel gibt es auf www.taubenschlag.de sowie auf Instagram (@taubenschlag.de).
Mit freundlicher Unterstützung von juteo
DGS-Übersetzung: Katja Fischer
Videoschnitt: Fabian Pufhan